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Der (un)mysteriöse Neue

sächsischer dialekt unsexy

Da saß er, einige Reihen vor mir, der Traum meiner schlaflosen jugendlichen Nächte. Beziehungsweise mein Backup-Plan, falls es mit Billie Joe Armstrong nicht hinhauen sollte. Blonde Wuschelhaare, strahlend blaue Augen, dunkler Kapuzenpulli und diese Aura vom mysteriösen neuen Schüler, auf den die ganze Schule steht, nur weil er neu und mysteriös ist. Oder weil er mysteriös ist, weil er neu ist. Irgendwie so.

Nur befanden wir uns in dieser Situation nicht in einem Tagtraum, dem ich in meinen quälend langen Jahren im Gymnasium nachhing, sondern in einem Hörsaal am Publizistik-Institut der Universität Wien.

Gefühlt jede Frau starrte nur ihm an den Hinterkopf und ich starrte mit. Irgendwie hatte ich in dieser Situation das Gefühl, etwas ganz Großem auf der Spur zu sein. Als befände ich mich im Landeanflug auf Berlin und hätte den Fernsehturm im Blick.

Es war nicht mal so, dass er so besonders hübsch war. Nein, ein zweiter Kontra K wird definitiv nicht mehr aus ihm. Aber wenn es etwas gibt, für das das Publizistik-Institut der Universität Wien neben seiner kompletten Abwesenheit von funktionierenden Strukturen bekannt ist, dann für seine Frauenquote, die, ähnlich wie der Ausländeranteil in Neukölln, bei vorbildlichen 400 Prozent liegt. Hat man dann mal ein männliches Wesen entdeckt, ist es meist doch nur ein Informatiker, der sich im Hörsaal geirrt hat. Bleibt dann doch mal einer sitzen, nachdem er die Worte „Gender Mainstreaming“ auf der ersten Folie gesehen hat, ist das für uns Frauen natürlich ein gefundenes Fressen.

Ich kannte ihn sogar. Also so ein bisschen. Wir wurden nämlich einmal in einer Vorlesung, in der die Vortragende die Universität wohl mit der örtlichen Hauptschule verwechselt hat, in Gruppen eingeteilt und mussten irgendwas erarbeiten. Wir waren zusammen in einer Gruppe mit vier Mädels (natürlich!), die für die Uhrzeit (acht Uhr morgens) viel zu viel Energie hatten und ständig irgendwas laberten. Unsere Kommunikation beschränkte sich also darauf, einander mitleidige Blicke zuzuwerfen.

Aber wenigstens wusste ich, dass er nicht, wie so viele, nur von weitem gut war. Das war schon mal ein Vorteil.

Während die Professorin irgendwas laberte, das in Anbetracht des Vorlesungsthemas höchstwahrscheinlich ziemlich oft die Worte „Patriarchat“ und „alte weiße Männer“ enthielt, musterte ich seinen Hinterkopf und versuchte, ihn telepathisch dazu zu bringen, sich zu mir umzudrehen.

Eigentlich musste ich pissen wie ein Bär, aber ich unterdrückte den Harndrang. Könnte ja sein, dass er genau in der Zeit, in der ich am Klo sitze, raus geht. Und ich musste nur noch fünf Minuten durchhalten. Fünf Minuten, die langsamer vergingen als Mikrowellenminuten, wenn man ausgehungert nach Hause kommt und einfach nur darauf wartet, dass das Essen warm wird.

Dann, endlich, wurde die Vorlesung offiziell für beendet erklärt. Statt rauszustürmen, um die meterlange Schlange vor dem Damen-WC als Erste zu erobern, ließ ich mir Zeit beim Zusammenpacken und beobachtete ihn.

Er stand auf, drehte sich um und lächelte mir durch den ganzen Saal hindurch zu. Ja, mir! Ich fühlte mich wie Joan Jett im Song „I love Rock’n’Roll“ wenn sie „Yeah, me!“ singt. Von mir aus auch wie Britney. Ich unterdrückte ein Grinsen, um lässiger zu wirken. Er kam nach oben in meine Richtung und irgendwie ergab es sich, dass wir nebeneinander her gingen. Gut, eventuell habe ich mein Tempo entsprechend angepasst. Aber muss ja niemand wissen.

Jedenfalls gingen wir nebeneinander her und er grinste mich an.

Ich fühlte es. Es war so weit. Der Moment, in dem wir endlich mal miteinander reden würden, war gekommen. Er öffnete den Mund, ich überlegte schon, ob wir sternzeichenkompatibel wären und wie sein Nachname, den ich noch herausfinden müsste, zu meinem Vornamen klingen würde und dann …

„Morschn! Dor red jo wirres Zeusch! Wollmor ersdma nän Gaffee?“

Eine Lektion nahm ich definitiv aus dieser Vorlesung mit: Nicht mal ein mieser Charakter und penetranter Schweißgeruch können einen Menschen so unattraktiv machen wie ein sächsischer Dialekt. Und dafür habe ich riskiert, dass mir die Blase platzt!

 

Photo by Justin Luebke on Unsplash

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