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Die Farbe Rot / 7 Tage, 7 Stories

„Ja, genau der ist es“, sage ich überzeugt, obwohl ich dank des Tageslichtmangels hier keine Ahnung habe, ob die Farbe im Alltag auch meinen Vorstellungen entspricht. Wer weiß, ob das grelle Neonlicht hier drin nicht alles schöner und satter erscheinen lässt, als es tatsächlich ist? Doch die nette Verkäuferin, die ich die letzte Viertelstunde mit meinen komplizierten, kaum zu erfüllenden Vorstellungen genervt habe, lächelt mich zufrieden an, nickt mir zu und erstickt damit meinen letzten Zweifel im Keim.

„Das ist die richtige Wahl“, beglückwünscht sie mich. „Der steht dir traumhaft gut und der passt wirklich zu allem.“

Vielleicht will sie mich auch einfach nur loswerden.

Wir gehen zusammen zur Kasse und ich bezahle. Zwar frage ich mich, ob ich für diesen Preis auch jemanden dazu gebucht habe, der mir meinen neuen Lippenstift jeden Tag aufträgt, aber ich beschließe, es als Investition zu sehen. In einer normalen Drogerie einen schönen, roten Lippenstift zu finden, ist in etwa so wahrscheinlich wie ein Sechser im Lotto. Entweder sie sind widerlich grell oder haben einen fetten Orangestich oder sie sehen im Neonlicht und auf der Hand toll aus und sobald man sie zuhause im normalen Licht ausprobiert, stellt man fest, dass das vermeintliche Rot doch wieder nur so ein dämlicher lilastichiger Beerenton war, von dem alle Marken Unmengen an Nuancen produzieren, die alle irgendwie gleich aussehen. Ein frustrierendes Unterfangen. Aber nun bin ich ja fündig geworden. Endlich habe ich mein Baby gefunden.

Ich stelle mir all die Dinge vor, die wir zusammen unternehmen werden und wie er nicht nur meine Lippen, sondern auch mein Leben verändern wird. So ziemlich jede Frauenzeitschrift prophezeit mindestens einmal im Jahr, meist dann, wenn der Herbst sich ankündigt, dass roter Lippenstift einfach das Nonplusultra sei. Er lässt die Zähne ohne Bleaching weißer wirken, er macht aus jeder grauen Maus einen Vamp, zieht Männer an wie das Licht die Motten, ist ein Erfolgsgarant für jede Gehaltsverhandlung und selbstverständlich hätte jede Naturkatastrophe durch roten Lippenstift verhindert werden können. Und doch ist es so schwer, einen guten davon zu finden. Aber ich habe es geschafft. Ich habe die Industrie bezwungen. Nimm das, du verflixter Kapitalismus!

Beschwingten Schrittes gehe ich zurück zum Auto und bilde mir ein, dass der wundersame Lippenstift schon jetzt seine Wirkung entfaltet. Ja, ich fühle mich stark. Wie Herkules mit langen Haaren und in untrainierter Form. Ich gehe an einem jungen Mann vorbei, der mir daraufhin zuwinkt. Schon will ich mein neues, durch den Lippenstift an die Oberfläche getragenes Selbstvertrauen nutzen, um ihm zuzuzwinkern, als ich merke, dass er nur seine Freundin hinter mir gesehen hat. Na toll. Wo bleibt nun die wundersame Wirkung, von der alle so schwärmen? Naja, ich kann es ja bei der nächsten Gehaltsverhandlung ausprobieren. Wenn die Generalprobe schlecht war, läuft die Premiere dafür wie geschmiert, sagt man ja. Ich bin gespannt.

Ich wickle den Schal enger um meinen Hals, als ich nach draußen gehe. Der Sommer ist gegangen und hat meine geliebte Hitze mitgenommen. Wie eine betrogene Ehefrau hat er sich davongeschlichen und die Wohnung, die einst so viel Wärme ausgestrahlt hat, leer geräumt. Zurück bleibt nur ein kühler Windhauch, der mir durch Mark und Bein geht. Ja, der Sommer ist weg und mit ihm sind auch die Farben gegangen. Der Himmel, der einst in einem satten Blau erstrahlte, hat sich in ein tristes Grau verwandelt. Der Löwenzahn, der sich vor einer Woche noch so anspruchslos und glücklich seinen Weg durch die Betonplatten hindurch bahnte, hat den Regenpfützen Platz gemacht. Selbst die Menschen scheinen an Farbe verloren zu haben. Bei manchen sind noch Reste der Sommerbräune zu erahnen, aber sie haben ihr farbiges Gewand abgestreift. Wo sich im Sommer rosa Kleider zu grünen Sonnenbrillen und gelben Sneakers gesellen und türkisfarbene Sandalen den Blick auf fröhlichen orangen Nagellack freigeben, scheinen die Leute jetzt nur noch eine Farbe zu kennen: Grau. Das dafür in allen möglichen Schattierungen. Selbst ihr Lachen scheinen sie verloren zu haben. Vom schönen, roten Herbst keine Spur.

Und dann sehe ich plötzlich sie. Von all den Menschen, die an mir vorbeigehen, hat sie es geschafft, meinen Blick auf sich zu ziehen. Nicht, weil sie besonders schön wäre oder besonders groß oder weil sie einen besonders eitrigen Pickel auf der Nase hat. Nein, weil sie die einzige auf diesem grauen Parkplatz zu sein scheint, die etwas Positives ausstrahlt. Sie bringt ein wenig Farbe in diese kalte, farblose Welt. Auch sie scheint mich wahrzunehmen. Wir haben uns noch nie zuvor gesehen und dennoch stehen wir uns gegenüber, als würde uns etwas verbinden. Und das tut es auch. Ihre Zähne erstrahlen in einem fast schon blendenden Weiß, als sie zu lächeln beginnt, und dennoch kann ich nur auf ihre Lippen starren. Denn, genauso wie ich, trägt sie einen satten roten Lippenstift.

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Das war Tag 3 unserer 7 Tage, 7 Stories Challenge und natürlich war das Erste, das mir zum Thema „Rot“ einfiel, mein geliebter Lippenstift, der diesem Blog seinen Namen verliehen hat. Auch, wenn ich den im Winter gekauft habe und sich die Ereignisse nicht ganz genauso zugetragen haben 😉 Aber im Endeffekt sind Geschichten eben nicht mehr oder weniger als das, was sie zu sein vorgeben – Geschichten.

Eure Julie,

Die mit dem roten Lippenstift

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3 Comments

  1. Nicci Trallafitti
    6 Jahren ago

    Liebe Julie,
    ich lese deine Texte so gerne! Eine richtig tolle Idee mit den 7 Tagen, 7 Stories.
    Jetzt will ich natürlich wissen, was für einen Lippenstift du benutzt, haha.
    Ich trage suuuper selten welchen, kann dir auch gar nicht sagen, was es für einer ist.
    Aber manchmal ist roter Lippenstift nun mal unabdinglich.
    Eine Booktuberin hat neulich einen empfohlen – ja, komisch irgendwie, ich weiß, aber sie drehte ein Video zu einem Tag in dem man sich zu Büchern schminken musste – und der kostet glaube ich 30-40€. Aber der scheint der Hit zu sein, ich glaube er war von Kat von D.

    Liebe Grüße,
    Nicci

    Reply
    1. Julie
      6 Jahren ago

      Danke liebe Nicci ❤
      Ich benutze den Viva Glam I von Mac 🙂 kann ich sehr empfehlen!
      Kat von D hatte ich gar nicht auf dem Schirm, muss ich mir mal anschauen!
      Alles Liebe, Julie

      Reply
      1. Nicci Trallafitti
        6 Jahren ago

        Danke für den Tipp ❤️
        Also die Buch Bloggerin war mega begeistert und sagte der hält bombastisch.

        Reply

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