In Personal

Der Buchstabe H / 7 Tage, 7 Stories

„Entschuldigen Sie bitte?“, riss sie der junge Mann, der seit Tagen in das Café kam, immer am selben Tisch am Fenster saß und einen Cappuccino bestellte, aus ihren Gedanken. Als sie näher an seinen Tisch trat, wurde sie verlegen. Die letzten Male hatten sie außer bei der Aufnahme der Bestellung und beim Bezahlen nicht miteinander gesprochen. Sie fand ihn zwar interessant, doch sie wollte ihn nicht stören. Er war immer so in sein Buch vertieft gewesen, dass sie sich gescheut hatte, ein Gespräch mit ihm anzufangen.

„Ist etwas nicht in Ordnung?“, wollte sie wissen und lächelte ihn freundlich an. Er schüttelte nur den Kopf.

„Da ist ein Haar in meinem Cappuccino“, behauptete er. Sie sah ihn verwirrt an.

„Entschuldigung, aber das kann ich mir nicht vorstellen“, sagte sie freundlich, aber bestimmt. Sie trug ihre langen dunklen Haare stets zu einem festen Zopf gebunden und hatte in all den Jahren, in denen sie sich in diesem Café schon etwas dazuverdiente, um ihr Studium zu finanzieren, nie eine Beschwerde bezüglich eines Haares gehört.

„Wenn ich Recht habe, trinken Sie dann einen Kaffee mit mir?“, fragte er und sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Doch selbstbewusst nickte sie. Sie war sich sicher, dass sich auch heute kein Haar in den Kaffee verirrt hatte. Er drückte ihr seine Tasse in die Hand und sie trug sie zurück zur Maschine, ohne einen genaueren Blick darauf zu werfen.

Dann sah sie es plötzlich – im Milchschaum prangte ein großes „H“ aus Kakaopulver.

Ihr Blick glitt zurück zu seinem Tisch und sie konnte sehen, dass er ihre Reaktion beobachtete. Seine Augen blitzten und er grinste sie spitzbübisch an. Hatte er sie doch tatsächlich reingelegt! Sie wusste nicht, ob sie verärgert sein oder seine Raffinesse bewundern sollte. Sie ging zu seinem Tisch zurück, die Cappuccino-Tasse hielt sie noch immer in der Hand.

„Sie haben mich reingelegt“, sagte sie. Schon wieder sah sie dieses freche Blitzen in seinen Augen, die von zarten Lachfältchen geziert wurden. Er sah gut aus. Das glatte braune Haar fiel ihm unordentlich ins Gesicht, seine Augen erstrahlten in einem dunklen Blau und sein Lächeln entblößte ein makelloses Gebiss.

„Dann heißt das also, Sie trinken einen Kaffee mit mir?“ Er wusste genau, dass seine Masche aufgegangen war und sie fragte sich, bei wie vielen Frauen sie vorher schon funktioniert hatte. Dann verdrängte sie den Gedanken daran. Das hier war zu süß, um es sich derartig zu versalzen.

„Jetzt ist es schlecht, meine Schicht ist noch nicht zu Ende und mein Boss sieht das nicht so gern“, antwortete sie. Er lächelte sie gutmütig an und deutete auf sein Buch.

„Kein Problem, ich habe Zeit. Und ich habe ein Buch, um mir selbige zu vertreiben“, antwortete er. Sie lächelte. Den wurde sie wohl nicht mehr los, sie musste ihren Wetteinsatz einlösen. Sie warf einen Blick auf das Buchcover. Anna Karenina von Tolstoi. Das war interessant. Wenn er die Autobiographie von Dieter Bohlen vor sich liegen gehabt hätte, hätte sie wohl lieber Bauchkrämpfe vorgetäuscht und sich danach einen Job in einem anderen Café gesucht als mit ihm etwas zu trinken. Aber so wurde sie neugierig auf den Kerl mit der raffinierten Art, nach einem Date zu fragen.

„Darf ich Ihnen derweil noch etwas bringen?“, fragte sie und hoffte, dass ihm ihr Starren nicht unangenehm war. Er schüttelte den Kopf und lächelte sie an.

„Danke, ich möchte lieber später mit Ihnen etwas trinken, wenn es in Ordnung ist.“

„Natürlich.“ Sie lächelte zurück und ging zurück zum Tresen. Zum Glück waren gerade viele Kunden anwesend, sodass sie nicht ständig auf die Uhr starrte in der Hoffnung, die Zeit bis zum Feierabend möge schneller vergehen. Sie musste sich ständig bemühen, den jungen Mann am Fenster nicht allzu neugierig anzustarren. Er war seelenruhig in sein Buch vertieft und schien das Geschehen um sich herum auszublenden. Ob er genauso aufgeregt war wie sie?

Pünktlich zu Schichtende knüllte sie ihre Schürze zusammen, schüttelte ihre Haare auf und band sie dann wieder zusammen. Er sollte sich nicht einbilden, dass sie sich extra wegen ihm zurechtgemacht hätte.

Sie machte noch zwei Cappuccini und trug sie zu seinem Tisch.

„Ich bin gekommen, um meinen Wetteinsatz einzulösen“, sagte sie. Er hatte sein Buch schon zur Seite gelegt und wartete offenbar auf sie. Sie stellte die Tassen ab und setzte sich ihm gegenüber.

„Es freut mich, dass Sie sich die Zeit für mich nehmen“, sagte er und lächelte sie an.

„Wettschulden sind Ehrenschulden“, antwortete sie und verrührte den Milchschaum ihres Kaffees. „Hat diese Masche schon oft funktioniert?“

„Ich weiß nicht, was Sie meinen“, sagte er betont unschuldig und trank einen Schluck. Oh und wie er das wusste. „Es mag zwar wirken wie ein durchtriebener Plan, aber im Grunde habe ich erst seit Montag daran gefeilt.“

Heute war Freitag.

„Dann war das also ein ziemlich ausgereifter Plan“, sagte sie.

„In der Tat“, bestätigte er. „Wenn man eine hübsche Frau auf einen Kaffee einladen möchte, muss man da schon geschickt vorgehen. Plumpe Anmachsprüche kann ja jeder raushauen. Ich wollte das schon richtig machen.“

Sie grinste. Irgendwie mochte sie ihn jetzt schon, obwohl sie weder seinen Namen, noch sein Alter oder sonst irgendetwas von ihm wusste. Im Grunde wusste sie nur, dass er gerne Cappuccino trank und offenbar eine Schwäche für literarische Klassiker hatte.

„Das hat ja offenbar gut funktioniert“, sagte sie. „Ich weiß zwar nicht, ob es stimmt, was Sie mir erzählen, aber Sie haben es geschafft, ich bin neugierig geworden. Erzählen Sie mir etwas über sich.“

Sie verloren sich in einem Gespräch und redeten, bis ihr Chef kam und sie daran erinnerte, dass er das Lokal schließen musste. Erschrocken sah sie auf die Uhr. Tatsächlich, sie hatten bis Mitternacht geredet. Am Ende des Abends kannte sie seinen Namen noch immer nicht. Sie wusste nur, dass sie den Buchstaben H von nun an mit ganz anderen Augen sehen würde.

_________________________________________________________________________________________

Was so ein kleiner Buchstabe alles auslösen kann! Ich muss zugeben, zu dieser Geschichte wurde ich auf Jodel inspiriert und ich fand die Story so charmant, dass ich unbedingt meine eigene daraus machen musste – da kam mir das Thema natürlich sehr gelegen. Ich hoffe, sie hat euch gefallen!

Eure Julie,

Die mit dem roten Lippenstift

Share Tweet Pin It +1

You may also like

Die Farbe Rot / 7 Tage, 7 Stories

Posted on 13. September 2017

Sonnenuntergang

Sonnenuntergang / 7 Tage, 7 Stories

Posted on 16. September 2017

Previous PostBlätter / 7 Tage, 7 Stories
Next PostSonnenuntergang / 7 Tage, 7 Stories

4 Comments

  1. Katharina
    7 Jahren ago

    Die Geschichte ist wundervoll und so eine süße Idee ?

    Reply
    1. Julie
      7 Jahren ago

      Dankeschön ?

      Reply
  2. Kat
    7 Jahren ago

    So eine zauberhafte Idee, Julchen. 🙂 Ich war die ganze Zeit am Grübeln, was ich über den Buchstaben H schreiben könnte.
    Aber DAS wäre mir nie eingefallen. Einfach süß! <3

    Wishes, Kathilein
    http://sevenandstories.net/

    Reply
    1. Julie
      7 Jahren ago

      Danke meine Liebe ❤ freut mich, dass es dir gefallen hat ?

      Reply

Leave a Reply

Ich akzeptiere